Erklären, was ist, beschreiben, was war, und Kinder zum

Gebrauch ihres eigenen Verstandes anleiten - das ist gut.


2103 Der Wolf und die sieben Geißlein

Der Wolf und die sieben Geißlein



Es war einmal eine alte Geiß. So nannte man früher eine Ziege. Diese alte Ziege hatte sieben Kinder, also sieben muntere kleine Geißlein. Sie liebte ihre Kinder und sorgte für sie. Eines Tages musste sie wieder einmal in den Wald gehen, um Futter zu holen.

Sie rief alle sieben Geißlein herbei und ermahnte sie, sich vor dem Wolf in Acht zu nehmen. Sie meckerte: „Er verstellt sich oft. Aber an der rauen Stimme und seinen schwarzen Pfoten ist er immer gut zu erkennen.“ Die Kinder versprachen, auf der Hut zu sein und die Alte machte sich auf den Weg.

Es dauerte nicht lange, da klopfte es an der Haustür. Eine Stimme rief:  „Macht auf, liebe Kinder, ich bin's, eure Mutter. Ich habe für jeden etwas mitgebracht.“ Doch die Geißlein hatten längst erkannt, dass es der böse Wolf war, der vor der Tür stand. „Wir machen nicht auf,“ riefen sie,  „du hast eine raue Stimme. Du bist bestimmt der Wolf, denn unsere Mutter hat eine feine und liebliche Stimme.“

Da ging der Wolf fort und kaufte ein großes Stück Kreide. Die aß er auf und hoffte, dadurch eine feine Stimme zu bekommen. Er kam zum Haus der Geißlein zurück, klopfte und rief: „Macht auf, liebe Kinder, ich bin's, eure Mutter. Ich habe jedem etwas Leckeres mitgebracht.“

Der Wolf hatte nun zwar eine feine Stimme, doch er hatte seine schwarze Pfote auf die Fensterbank gelegt. Das sahen die Geißlein und riefen sofort: „Wir machen nicht auf, unsere Mutter hat keine schwarzen Füße wie du. Du bist bestimmt der Wolf.“

Da lief der Wolf zu einem Bäcker. Dem erzählte er, er habe sich den Fuß gestoßen und verlangte von ihm, Teig darüber zu streichen. Anschließend ging er zu einem Müller und forderte, weißes Mehl über den Teig zu streuen. Der Müller war sich sicher, dass der Wolf etwas Böses im Schilde führte, doch er hatte Angst und tat, was das gefährliche Tier von ihm verlangte.

Zum dritten Mal kehrte der Wolf nun zum Haus der Geißlein, klopfte wieder und sprach mit seiner falschen Stimme: „Macht auf, liebe Kinder, eure Mutter hat jedem etwas aus dem Wald mitgebracht.“

Die Geißlein trauten der Stimme allein nicht und riefen: „Zeig uns zuerst deine Pfote.“ Der Wolf hielt nun seine Pfote ans Fenster. Sie sahen, dass sie weiß war, und eines von ihnen, das die anderen nicht mehr zurückhalten konnten, öffnete die Tür.

Sofort stürzte der Wolf herein. Die Geißlein erschraken fürchterlich und versuchten sich zu verstecken. Eins sprang unter den Tisch, ein anderes unter die Bettdecke, das dritte in den Ofen, das vierte in die Küche, das fünfte in den Schrank, das sechste unter das Waschbecken und das siebte in den Kasten der großen Wanduhr. Doch der Wolf fand sie alle und schlang sie gierig herunter. Nur das jüngste Geißlein, das sich im Uhrenkasten versteckt hatte, fand er nicht. Zufrieden trottete er aus dem Haus und legte sich in der Nähe auf einer grünen Wiese unter einen Baum und schlief ein.

Etwas später kam die alte Geiß aus dem Wald zurück. Sofort sah sie, was geschehen war. Die Haustür stand offen, der Tisch und die Stühle waren umgeworfen, Decken und Kissen waren aus dem Bett gerissen und zerfetzt. Ängstlich rief sie ihre Kinder der Reihe nach beim Namen, doch nur eines antwortete. Sie fand die jüngste Geiß im Uhrenkasten, zog sie heraus, ließ sich alles berichten und weinte bitterlich.

Nach einiger Zeit lief sie mit ihrem jüngsten Kind hinaus und versuchte den Wolf zu finden. Sie kamen zu der Wiese, wo der Wolf lag und laut vor sich hin schnarchte. Sie näherten sich vorsichtig und sahen, dass sich in dem prallen Bauch des Wolfes etwas bewegte. Sollten ihre Kinder noch am Leben sein?

Sie schickte das Jüngste los, um eine Schere, Faden und Nadel zu holen. Dann schnitt die Alte dem bösen Wolf den Bauch auf und alle sechs Geißlein sprangen heraus. Sie lebten und hatten keinen Schaden erlitten, denn das
Untier hatte sie ganz hinunter geschluckt. Was war das eine Freude! Die Geiß schickte ihre Kinder los, schwere Feldsteine zu holen. Die legte sie in den Bauch des Wolfes und nähte ihn schnell wieder zu.

Als der Wolf ausgeschlafen hatte, stand er auf und wollte zu einem Brunnen laufen, denn er verspürte großen Durst. Doch als er sich bewegte, stießen die Steine in seinem Bauch aneinander und es knirschte und kollerte. Da rief er: „Was rumpelt und pumpelt in meinem Bauch herum. Ich habe doch sechs Geißlein gefressen, und jetzt habe ich das Gefühl, es wären schwere Steine gewesen.“

Mit Mühe erreichte er den Brunnen und beugte sich über den Rand. Doch da verlor er unter der Last der schweren Steine das Gleichgewicht, stürzte in den Brunnen, aus dem er sich nicht mehr befreien konnte, so dass er ertrank.

Als die sieben Geißlein und ihre Mutter das sahen, freuten sie sich und riefen im Chor: „Der Wolf ist tot! Der Wolf ist tot!“ Dabei tanzten sie fröhlich um den Brunnen herum.
Erzählt nach dem Märchen von Jakob und Wilhelm Grimm
Das Titelbild entstand unter Verwendung einer Illustration von Carl Fahringer (PD)
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